In der Technik ist es zum Beispiel bei Materialien üblich, bestimmte Eigenschaften zu perfektionieren. In der Natur hingegen ist „gut genug“ manchmal besser als „perfekt“, wobei die Natur dabei auf eine Ausgewogenheit verschiedener Eigenschaften achtet. Die Wissenschaft kann davon einiges lernen. Immer wieder erzielt man in der Materialforschung neue Rekorde: Noch festere, noch härtere oder noch elastischere Materialien, maximale Tragfähigkeit bei möglichst geringer Dichte. Komplizierte Hochleistungs-Verbundstoffe erweitern die Grenzen des technisch Machbaren.
In der Natur allerdings ist das meistens anders: Sie bringt nicht unbedingt Materialien mit extremen Materialeigenschaften hervor, sondern berücksichtigt auch Eigenschaften wie Langlebigkeit, Reparierbarkeit und Wiederverwendbarkeit. Der beste Knochen ist nicht unbedingt der härteste, sondern vielleicht jener, der möglichst rasch wieder verheilt.
An der TU Wien wird an biogenen Materialien geforscht – nun hat man untersucht, inwieweit man in Wissenschaft und Technologie diese Grundprinzipien berücksichtigen kann. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „Advanced Functional Materials“ publiziert.
Eine Mauer um die ganze Welt
„Die Menge an Rohstoffen, die wir jedes Jahr nutzen, ist gewaltig“, sagt Prof. Ille C. Gebeshuber, die am Institut für Angewandte Physik der TU Wien seit vielen Jahren an Bio-Materialien forscht. „Würde man all dieses Material, von Erdöl über Mineralien bis hin zu Gestein, zu einer Mauer auftürmen, dann wäre diese Mauer bei einer Breite von einem Meter rund einen Kilometer hoch und würde rund um den Äquator reichen“, rechnet Gebeshuber vor. „Und jedes Jahr wird diese Mauer ungefähr um 2,8 cm dicker.“
Dieser gewaltige Ressourcenverbrauch ist eng damit verbunden, wie wir Menschen üblicherweise Materialien auswählen: „Oft möchte man unterschiedliche Materialeigenschaften miteinander kombinieren – man möchte zum Beispiel ein Material, das möglichst fest ist, aber keine allzu große Dichte hat. Dann kann man in materialwissenschaftlichen Diagrammen nachsehen, welche Materialien diese Anforderungen am besten erfüllen und wählt dann ein Material vom äußersten Rand dieses Diagramms, zum Beispiel eine bestimmte Metalllegierung.“
Im selben Diagramm finden sich aber auch biologische Materialien – meist mit etwas weniger extremen Eigenschaften. „Die entscheidende Frage ist nun aber: Sind diese natürlichen Materialien vielleicht trotzdem noch gut genug, für das, was wir im konkreten Fall eigentlich brauchen?“ sagt Richard van Nieuwenhoven (TU Wien), der Erstautor des aktuellen Papers.
Die etwas weniger optimalen Materialeigenschaften können nämlich von anderen Vorteilen mehr als aufgewogen werden – etwa von einer besseren Umweltverträglichkeit, von größerer Flexibilität, von besseren Reparaturmöglichkeiten. „Die Natur optimiert das Ganze, nicht nur ein oder zwei bestimmte Parameter – und das kann man sich auch in der Materialwissenschaft zunutze machen“, sagt Ille C. Gebeshuber.
Lebende Materialien
So entsteht derzeit in der Materialforschung ein neuer Trend, konstatiert Ille C. Gebeshuber: Man spricht von „Engineered Living Materials“ (ELMs) – also von natürlichen Materialien, die man auf durchdachte, kontrollierte Weise für technische Anwendungen einsetzt.
So gibt es etwa Betonsorten, in die spezielle Bakterien eingearbeitet werden. Das verschlechtert die Materialeigenschaften des Betons zunächst vielleicht ein bisschen, doch falls im Beton irgendwo ein Riss entsteht und Wasser einsickert, dann werden diese Bakterien aktiv und heilen den Riss. Es gibt auch erfolgreiche Experimente, Bäume gezielt in bestimmter Form wachsen zu lassen, um ihr Holz dann für einen bestimmten Einsatzzweck anzupassen – zum Beispiel für die Herstellung eines Sessels. In Indonesien gibt es Brücken, die aus lebendigen Planzenteilen geformt werden – so entsteht ein tragfähiges Geflecht aus biegsamen Zweigen und Lianen, das zwar sicher keiner Eisenbahn standhalten würde, aber für den Einsatz als Fußgängerbrücke vielleicht die bessere, dauerhaftere und wartungsärmere Lösung ist.
„Je genauer man natürliche Materialien studiert, umso klarer wird, dass wir auch auf industrieller Skala viel von der Natur lernen können“, ist Ille C. Gebeshuber überzeugt. „In der Technik denken wir bei jedem Objekt an einen ganz bestimmten Einsatzzweck. In der Natur hingegen hat fast immer alles mehr als nur eine Funktion. Es geht nicht um das Optimieren bestimmter Materialparameter, sondern genauso auch um das Optimieren des Ressourcen- und Energieverbrauchs, um die Möglichkeit zu reparieren und zu heilen, um komplexe verzweigte Netze, nicht nur um lineares Denken.“ Die Materialforschung, davon ist Gebeshuber überzeugt, wird durch neue Erkenntnisse aus der Natur die eigenen Zugänge und Gewohnheiten in Zukunft völlig verändern.
Originalpublikation:
R. van Nieuwenhoven, M. Drack, I. Gebeshuber: Engineered Materials: Bioinspired “Good Enough” versus Maximized Performance, Advanced Functional Materials (2023).
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/adfm.202307127
Rückfragehinweis:
Prof. Ille C. Gebeshuber
Institut für Angewandte Physik
Technische Universität Wien
+43 1 58801 13483
ilse-christine.gebeshuber@tuwien.ac.at
Energy & Environment ist – neben Computational Science & Engineering, Quantum Physics & Quantum Technologies, Materials & Matter sowie Information & Communication Technology – einer von fünf Forschungsschwerpunkten der Technischen Universität Wien. Geforscht wird an der Erschließung neuer Energiequellen, der Versorgung mit Energie sowie deren Speicherung und effiziente Nutzung. Das technische Know how wird durch Expertise in den Bereichen Klima, Umwelt, Wirtschaft und Rohstoffe erweitert.
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(GZ)
Quelle: TU Wien
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